Bereits 2003 konstatierte David M. Halperin eine Normalization of Queer Theory. In einem kurzen Artikel führte er den gerade aus heutiger Perspektive nicht mehr zu bestreitenden Erfolg der Queer Theory,
sich an sämtlichen Fachbereichen des Universitätsbetrieb wie auch in
der außerakademischen Bildung zu etablieren, auf die De-Spezifizierung
jener Erfahrungen zurück, die vordem in den Lesbian oder Gay Studies zum
Gegenstand gemacht werden sollten: “Queer“ degenerierte zu einem
“generic badge of subversiveness“ (Halperin 2003), das nach Belieben in
alle Disziplinen aufgenommen und gemäß den in der
Projektförderlandschaft des Wissenschaftsbetriebs künstlich generierten
Bedarfen ausgedeutet und instrumentalisiert werden konnte.
An
diesen Befund anschließend wird im Vortrag die Frage gestellt, welche
Konsequenzen die für die genannte Entwicklung konstitutiven
post-strukturalistischen (und damit letztlich positivistischen)
Prämissen der Queer Theory für die Emanzipation sogenannter sexueller Minderheiten haben, in deren Interesse die Queer Theory
Wissenschaft und politischen Aktivismus verbinden zu müssen glaubt und
deren besondere Erfahrungen sie zu artikulieren beansprucht.
Diesem
Ansinnen muss sich die als Resultat eines Triebschicksals verstandene
Sexualität notwendiger Weise entziehen. Im sexuellen Begehren des
Individuums drückt sich zwar stets Allgemeines aus, aber insofern es an leiblich vermittelte
Erfahrung gebunden ist, muss daran festgehalten werden, dass es
zugleich Ausdruck des Nicht-Identischen der leidenden und genießenden
Menschen ist, die nicht vollständig individuiert werden können, sondern
unaufhebbar Einzelne sind. Anderenfalls wird Differenz als eine zwischen
Kollektiven verdinglicht, in denen die Einzelnen nicht zuletzt im
Interesse politischer Gemeinschaftsstiftung untergehen. Dann betreibt
man „Identitätspolitik“, die besondere Erfahrungen Andersbegehrender produktiv integriert und ihnen damit gerade nicht gerecht wird.
Die Konsequenzen der Bewusstlosigkeit der Queer Theory für
dieses Problem werden im Vortrag nicht disziplingeschichtlich, sondern
an drei gegenwärtigen Modellen verdeutlicht: die Auseinandersetzung mit
der Konkretion schwulen Begehrens, der Umgang mit LGBT-Geflüchteten und
die Kritik der Neuen Rechten. In allen Fällen wird dafür plädiert, den
gegenwärtigen identitätspolitischen Auseinandersetzungen um Sexualität
die Abstraktheit zu nehmen und den Leib nicht zu Gunsten des Körpers zu
verleugnen. Erst dann lässt sich, wie Hans Mayer forderte, die
„ungeduldige Verlegenheit vor Einsamkeiten“ überwinden und sich
ernsthaft mit der Frage befassen, wie die Befreiung jener „Außenseiter“
befördert werden kann, „die als Monstren geboren wurden“.
Steffen
Stolzenberger studierte Philosophie und Anglistik in Oldenburg. Er
promoviert gegenwärtig am Institut für Erziehungswissenschaft der
Johannes Gutenberg-Universität Mainz zur Kritik an der
Kompetenzentwicklung als bildungspolitisches Paradigma und arbeitet als
Lehrer in Frankfurt am Main. Im Sammelband „Zugzwänge. Flucht und
Verlangen“ veröffentlichte er 2020 den Aufsatz „Queer Refugee Support in
der politischen Ökonomie des Helfens. Vom Migrationsmanagement zum
metaphysischen Leid“. Zuletzt erschien von ihm 2022 der Text „‚Aufstand
gegen die Natur und gegen die Wirklichkeit‘. Zum Homosexuellenhass in
der AfD und zur Unredlichkeit ihrer Kritiker“ im Sammelband „Randgänge
der Neuen Rechten. Philosophie, Minderheiten, Transnationalität“.
Die
Veranstaltung wird live auf dem YouTube-Kanal der Gesellschaft für
kritische Bildung gestreamt. Sie wird von der GfkB Bremen/Oldenburg in
Kooperation mit dem Bremer Kulturzentrum Irgendwo und dem AStA Oldenburg
ausgerichtet.